Der Dom und ›die Juden‹-Michaelsportal
In den Archivolten des Michaelsportals auf der Nordseite des Domes sind Patrone verschiedener Berufsgruppen dargestellt.
Die Skulpturen entstanden 1880/81 in der Werkstatt von Dombildhauer Peter Fuchs. In der dritten Archivolte von links befand sich die Darstellung des Werner von Oberwesel als Patron der Winzer. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Skulptur stark beschädigt, das Gipsmodell hat sich aber im Depot der Dombauhütte erhalten.
Werner sitzt auf einem Thron, zu dessen Füßen ein überreich gefüllter Tragekorb mit Weintrauben steht, die gleichermaßen als Symbol für die Winzer und für die Passion stehen. In der Hand hält er den Palmzweig des Martyriums. Dieser weist unübersehbar auf den angeblichen Ritualmord an Werner hin, an den auch im Chorgestühl erinnert wird und der im späten 13. Jahrhundert als Legitimation blutiger Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung an Mosel, Mittel- und Niederrhein gedient hatte.
Dass noch Ende des 19. Jahrhunderts eine Darstellung Werners am Dom möglich war, zeugt von einem hohen Maß an Ignoranz und mangelnder Sensibilität gegenüber den jüdischen Mitbürgern, von denen sich viele maßgeblich am Dombau beteiligt hatten. Auch noch im 19. Jahrhundert kam es wiederholt zu Ritualmordvorwürfen, ein Zeichen dafür, wie lange antijüdische Propaganda wirksam blieb.
Erst 1963 wurde Werners Name aus dem Heiligenverzeichnis des Bistums Trier gestrichen. An den einstigen Kult erinnert heute nur noch die Ruine der »Wernerkapelle« in Bacharach. Eine dort angebrachte Gedenktafel gibt ein Gebet von Papst Johannes XXIII. wieder:
»Wir erkennen heute, dass viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so dass wir die Schönheit deines auserwählten Volkes nicht mehr sahen und die Züge unseres erstgeborenen Bruders nicht mehr wiedererkannten. Wir entdecken nun, dass ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel im Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat die Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, dass wir dich in ihrem Fleische zum zweiten Mal ans Kreuz schlugen. Denn wir wussten nicht, was wir taten.«
2023 hat das Metropolitankapitel der Hohen Domkirche beschlossen, die zerstörte Skulptur des Werner nicht durch eine Rekonstruktion zu ersetzen, da dies letztlich eine Erneuerung und Fortschreibung der mit Werner verbundenen Ritualmordlegende bedeutet hätte. Die entstandene Lücke sorgt für eine gewisse Irritation, die dazu einlädt, Fragen zu stellen, ins Gespräch zu kommen und sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Peter Füssenich
Werner wurde von Peter Fuchs als junger Mann dargestellt. Der Palmzweig in seiner Hand erinnert an den angeblichen Ritualmord.